Die 1. Variation und die Eulersche Differentialgleichung.

In der Variationsrechnung behandelt man Extremalaufgaben auf Funktionenräumen. Anstatt nach dem Extremwert einer Funktion auf einem $ \mbox{$n$}$ -dimensionalen Vektorraum zu fragen, wird nach dem Extremwert eines Funktionals auf einem Funktionenraum gefragt. Ein solches Funktional ist typischerweise eine geometrisch oder physikalisch motivierte Größe, wie etwa die Länge des Graphen einer Funktion $ \mbox{$x$}$ oder die Höhe seines Schwerpunktes etc. Daher wird in der Regel ein Integral über einen von der Funktion $ \mbox{$x(t)$}$ abhängigen Ausdruck betrachtet, welcher auch $ \mbox{$t, \dot x(t)=\frac{\text{d}}{\text{d}t} x(t)$}$ beinhalten kann. In dieser Einführung werden wir uns auf den eindimensionalen Fall beschränken.

Es seien $ \mbox{$f=f(t,x,\dot x):G\to\mathbb{R}$}$ , $ \mbox{$G\subset\mathbb{R}^3$}$ ein Gebiet, und es gelte $ \mbox{$f,f_x,f_{\dot x}\in C(G)$}$ . Wir betrachten das Variationsproblem

$ \mbox{$\displaystyle
I(x):=\int_a^b f(t,x(t),\dot x(t))\ \text{d}t=\min \quad\quad (\ast)
$}$
für zulässige Funktionen $ \mbox{$x$}$ . Dabei heißt $ \mbox{$x:[a,b]\to\mathbb{R}$}$ zulässig, falls gilt:
  1. $ \mbox{$\displaystyle
\begin{array}{rcl}
x\in C_s^1[a,b]
&:=&\{x\in C[a,b]\;\...
... \dot x(t_\nu-) \text{ existieren f\uml ur alle } \nu=1,\dots,n\}
\end{array}$}$
    und
  2. $ \mbox{$\displaystyle
(t,x(t),\dot x(t))\in G \text{ f\uml ur alle } a\leq t\leq b \text{ (bzw. } (t,x(t),\dot x(t\pm))\in G).
$}$
Ist $ \mbox{$\dot x(t+) \neq \dot x(t-)$}$ für eine zulässige Funktion $ \mbox{$x$}$ , $ \mbox{$t\in (a,b)$}$ , d.h. der rechtseitige Grenzwert ungleich dem linksseitigen Grenzwert der zulässigen Funktion $ \mbox{$\dot x$}$ in $ \mbox{$t$}$ , so sagen wir, $ \mbox{$t$}$ ist eine Ecke von $ \mbox{$x$}$ . Somit ist eine zulässige Funktion $ \mbox{$x$}$ genau dann stetig differenzierbar, wenn sie keine Ecken besitzt.

Wir schreiben $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ , falls $ \mbox{$x$}$ die zugehörigen Randbedingungen erfüllt, d.h. es gilt $ \mbox{$R(a,b,x(a),x(b),\dot x(a),\dot x(b))=0$}$ mit einer gegebenen Funktion $ \mbox{$R:\mathbb{R}^6\to\mathbb{R}^2\,$}$ (also $ \mbox{$2$}$ Randbedingungen).

Eine zulässige Funktion $ \mbox{$\overline x \in \mathcal{R}$}$ heißt

(i)
schwaches (lokales) Minimum von $ \mbox{$(\ast)$}$ , falls ein $ \mbox{$\varepsilon>0$}$ existiert, so dass $ \mbox{$I(\overline x) \leq I(x)$}$ für alle zulässigen $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ mit $ \mbox{$\Vert x - \overline x \Vert _1 < \varepsilon$}$ gilt,
(ii)
starkes (lokales) Minimum von $ \mbox{$(\ast)$}$ , falls ein $ \mbox{$\varepsilon>0$}$ existiert, so dass $ \mbox{$I(\overline x) \leq I(x)$}$ für alle zulässigen $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ mit $ \mbox{$\Vert x - \overline x \Vert _0 < \varepsilon$}$ gilt,
(iii)
globales Minimum von $ \mbox{$(\ast)$}$ , falls $ \mbox{$I(\overline x) \leq I(x)$}$ für alle zulässigen $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ gilt.
Dabei legen wir die folgenden Normen zugrunde. Ist $ \mbox{$t\in (a,b)$}$ eine Ecke von $ \mbox{$x$}$ , so ist $ \mbox{$\vert\dot x(t)\vert$}$ durch $ \mbox{$\max\{\vert\dot x(t-)\vert,\vert\dot x(t+)\vert$}$ zu ersetzen.

Anschaulich gesprochen bedeutet dies, daß $ \mbox{$\overline x$}$ ein starkes (lokales) Minimum ist, falls $ \mbox{$\overline x$}$ das gegebene Funktional $ \mbox{$I(x)$}$ in einer hinreichend kleinen Umgebung um $ \mbox{$\overline x$}$ minimiert. $ \mbox{$\overline x$}$ ist hingegen ein schwaches (lokales) Minimum, falls $ \mbox{$\overline x$}$ das gegebene Funktional $ \mbox{$I(x)$}$ in einer hinreichend kleinen Umgebung um $ \mbox{$\overline x$}$ für nicht zu ,,zackige`` Funktionen minimiert.

Offenbar gilt die Implikationskette $ \mbox{$\overline x$}$ ist ein globales Minimum $ \mbox{$\Rightarrow$}$ $ \mbox{$\overline x$}$ ist ein starkes (lokales) Minimum $ \mbox{$\Rightarrow$}$ $ \mbox{$\overline x$}$ ist ein schwaches (lokales) Minimum. Die umgekehrte Richtung ist jedoch im Allgemeinen falsch.

Wir nennen eine Funktion $ \mbox{$\eta:[a,b] \to \mathbb{R}$}$ eine zulässige Variation von $ \mbox{$I(x)=\min$}$ , $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ , falls $ \mbox{$\eta \in C_s^1[a,b]$}$ , so daß für jede zulässige Funktion $ \mbox{$x \in \mathcal{R}$}$ ein $ \mbox{$\varepsilon_0 > 0$}$ mit

$ \mbox{$\displaystyle
x+\varepsilon \eta \text{ ist zul\uml assig und }\in \mathcal R \text{ f\uml ur alle }\vert\varepsilon\vert \leq \varepsilon_0
$}$
existiert.

Für das ,,Standardproblem`` mit festen Rändern, also $ \mbox{$I(x)=\min$}$ , $ \mbox{$x(a)=x_1, x(b)=x_2$}$ ( $ \mbox{$a,b,x_1,x_2\,$}$ alle fest) gilt offenbar: $ \mbox{$\eta:[a,b] \to \mathbb{R}$}$ ist zulässige Variation genau dann, wenn $ \mbox{$\eta \in C_s^1[a,b]$}$ und $ \mbox{$\eta(a)=\eta(b)=0$}$ .

Die 1. Variation.

Es sei $ \mbox{$x_0$}$ eine zulässige Funktion, $ \mbox{$x_0 \in \mathcal R$}$ , und $ \mbox{$\eta$}$ sei eine zulässige Variation für $ \mbox{$I(x)=\min$}$ , $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ . Dann ist die Funktion $ \mbox{$F(\varepsilon):=I(x_0+\varepsilon\eta)$}$ für $ \mbox{$\vert\varepsilon\vert\leq\varepsilon_0$}$ , $ \mbox{$\varepsilon_0 > 0$}$ hinreichend klein, wohldefiniert und es existiert $ \mbox{$F'$}$ auf $ \mbox{$[-\varepsilon_0,\varepsilon_0]$}$ . Es gilt

$ \mbox{$\displaystyle
F'(0)=\int_a^b \{f_x(t,x_0(t),\dot x_0(t))\eta(t)+f_{\dot x}(t,x_0(t),\dot x_0(t))\dot\eta(t)\}\text{d}t,
$}$
und diese Größe heißt die 1. (Gâteaux-) Variation von $ \mbox{$I(x)$}$ bei $ \mbox{$x=x_0$}$ in Richtung $ \mbox{$\eta$}$ . Wir schreiben $ \mbox{$I'(x_0,\eta)$}$ oder $ \mbox{$\partial I(x_0,\eta)$}$ .

Mittels partieller Integration folgt für das Standardproblem

(i)
$ \mbox{$\partial I(x_0,\eta)=-\displaystyle\int_a^b\left\{\int_a^t f_x(\tau,x_0...
...))\text{d}\tau-f_{\dot x}(t,x_0(t),\dot x_0(t))\right\}\dot\eta(t)\text{d}t\,$}$ ,
(ii)
$ \mbox{$\partial I(x_0,\eta)=\displaystyle\int_a^b\left\{f_x(t,x_0(t),\dot x_0(...
...text{d}}{\text{d}t}f_{\dot x}(t,x_0(t),\dot x_0(t))\right\}\eta(t)\text{d}t\,$}$ , falls $ \mbox{$f_{\dot x}(t,x_0(t),\dot x_0(t))\in C_s^1[a,b]$}$ ist.

Ist nun $ \mbox{$\overline x$}$ schwaches (lokales) Minimum für $ \mbox{$I(x)=\min$}$ , $ \mbox{$x\in\mathcal R$}$ , so gilt $ \mbox{$I'(\overline x,\eta)=\partial I(\overline x,\eta)=0$}$ für alle zulässigen Variationen $ \mbox{$\eta$}$ .

Diese Bedingungen sind jedoch nicht sehr praktikabel, weil sie auch $ \mbox{$\eta$}$ bzw. $ \mbox{$\dot\eta$}$ enthält. Wir wollen im folgenden Bedingungen formulieren, die die zulässigen Variationen $ \mbox{$\eta$}$ nicht mehr enthalten.

Die Eulersche Differentialgleichung.

Es sei $ \mbox{$\overline x$}$ ein schwaches (lokales) Minimum für $ \mbox{$I(x)=\min$}$ mit den Ecken $ \mbox{$t_1,\ldots,t_n$}$ . Dann gibt es ein $ \mbox{$c \in \mathbb{R}$}$ so, dass die Eulersche Differentialgleichung

$ \mbox{$\displaystyle
f_{\dot x}(t,\overline x(t), \dot{\overline x}(t)) = \in...
...tau + c\ \text{ f\uml ur alle } t \in [a,b] \setminus \{ t_1, \ldots, t_n \}
$}$
gilt. Dies ist gleichbedeutend mit
$ \mbox{$\displaystyle
\frac{\text{d}}{\text{d}t} f_{\dot x}(t,\overline x(t), ...
...x}(t))\ \text{ f\uml ur alle } t \in [a,b] \setminus \{ t_1, \ldots, t_n \}.
$}$

Eine stetig differenzierbare Lösung der obigen Integralgleichung heißt Extremale oder kritische Funktion. Eine Extremale $ \mbox{$x$}$ heißt regulär, falls alle ,,Linienelemente`` $ \mbox{$(t,x(t),\dot x(t)) \in G$}$ regulär sind, d.h. $ \mbox{$\det f_{\dot x \dot x}(t,x(t),\dot x(t)) \neq 0$}$ für alle $ \mbox{$a \leq t \leq b$}$ .

Ist $ \mbox{$f \in C^2(G)$}$ und $ \mbox{$x \in C^1[a,b]$}$ eine reguläre Extremale von $ \mbox{$I(x)$}$ , so ist sogar $ \mbox{$x \in C^2[a,b]$}$ , und $ \mbox{$x$}$ erfüllt die Differentialgleichung zweiter Ordnung

$ \mbox{$\displaystyle
\ddot x(t) = \left( f_{\dot x \dot x}(t,x(t),\dot x(t))...
...\dot x t}(t,x(t),\dot x(t)) - f_{\dot x x}(t,x(t),\dot x(t)) \dot x \right).
$}$
Diese wird Eulersche Differentialgleichung in expliziter Form genannt.

Eine einfache Folgerung der Eulerschen Differentialgleichung ist die

1. Weierstraß-Erdmannsche Eckenbedingung.

Diese besagt, daß für die Ecken $ \mbox{$t_1,\ldots,t_n$}$ eines schwachen (lokalen) Minimums $ \mbox{$\overline x$}$ stets $ \mbox{$f_{\dot x}(t,\overline x(t_\nu), \dot{\overline x}(t_\nu-))=f_{\dot x}(t,\overline x(t_\nu), \dot{\overline x}(t_\nu+))$}$ für alle $ \mbox{$\nu=1,\ldots, n$}$ gilt, d.h., daß $ \mbox{$f_{\dot x}(t,\overline x(t), \dot{\overline x}(t))$}$ stetig auf $ \mbox{$[a,b]$}$ ist.

Falls nun etwa $ \mbox{$f_{\dot x \dot x}>0$}$ oder $ \mbox{$f_{\dot x \dot x}<0$}$ auf $ \mbox{$G$}$ gilt, besitzt $ \mbox{$\overline x$}$ keine Ecken.