Ein Diabetes Informationssystem zur Unterstützung von Routinearbeit, Qualitätsmonitoring und prospektiver Dokumentation

M. Grabert1, R.W. Holl2, P. Merkle1

(Sektion Angew. Informationsverarbeitung1 und Abt. Pädiatrie I 2, Universität Ulm)

Abstrakt

Die Notwendigkeit des Einsatzes rechnergestützter Datenbanken für die Bewältigung der täglichen Datenflut bei der Behandlung chronischer Krankheiten ist offensichtlich. Für Diabetes mellitus wurde dies bereits 1989 in der St.Vincent-Erklärung gefordert [1]. Vier Hauptziele können mit dem Einsatz moderner Informationssysteme erreicht werden: Monitoring der Behandlungsqualität einer Diabetesambulanz, Unterstützung bei täglichen Routinearbeiten und wissenschaftlichen Forschungsarbeiten sowie Überwachung des Krankheitsverlaufs eines einzelnen Diabetes-Patienten.
Das Diabetes Computerprogramm DPV (Diabetes Softwaressystem zur Prospektiven Verlaufsdarstellung) wurde in den letzten fünf Jahren entwickelt. Es werden Zusammenfassungen über die Daten eines Patienten für den behandelnden Arzt erstellt, standardisierte Arztbriefe nach ambulanter oder stationärer Patientenvorstellung automatisch generiert und Patientendaten in tabellarischer und graphischer Form aufbereitet. Um die Qualität der Ambulanz darzustellen und zu überwachen, können Quartalsstatistiken über Qualitätsindikatoren auf Tastendruck erstellt werden. Diese Statistiken dienen sowohl der internen und externen Qualitätskontrolle, als auch als Diskus sionsgrundlage für Qualitätszirkel.
Aufgrund einer offenen Systemarchitektur ist es für jeden Benutzer möglich, neue Tabellen und Masken in das System zu integrieren. Dies ermöglicht sowohl die Erfassung von Para metern für eigene Forschungsinteressen, als auch multizentrische Studien unter Beteiligung mehrerer Kliniken.
Das Programm ist zur Zeit an ca. 25 deutschen, österreichischen und schweizer Kliniken im Einsatz. Eine englischsprachige Version befindet sich im Betatest.

Einleitung

Wenn man die Diskussion über das Gesundheitswesen in Deutschland beobachtet, fällt neben der Forderung nach einem bezahlbaren öffentlichen Gesundheitssystem das Thema Qualitätssicherung in allen Sparten der Medizin auf. Daß die beiden Themen zusammenhängen, ist einsichtig [2].
Seit 1988 sind Maßnahmen zur externen und internen Qualitätssicherung in Krankenhäusern im Sozialgesetzbuch festgeschrieben, 1993 wurde die Beteiligung der Ärztekammern mitaufgenommen [3]. Nach der jeweiligen Berufsordnung der Landesärztekammern ist der Arzt zur Durchführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen verpflichtet.
Die Qualität ärztlicher Behandlung wird in der Regel durch krankheitsspezifische Qualitätsindikatoren und Tracer dargestellt und überwacht. Qualitätssicherung umfaßt externe wie interne Interpretationen und Vergleiche der gewonnenen Ergebnisse, sowie eine Reihe von präventiven Maßnahmen in einer Klinik [4][5].

Während des Verlaufs chronischer Krankheiten wie Diabetes mellitus Typ I fallen über die Jahre sehr viele Patientendaten aufgrund häufiger ambulanter oder stationärer Termine an. Um die riesigen Datenmengen sowohl des Krankheitsverlaufs wie auch des Qualitätsmonitorings effizient verarbeiten zu können, ist der Einsatz rechnergestützter Informationssysteme unerläßlich [1].

Hintergründe und Ziele

Das Diabetes Informationssystem DPV wird an der Universität Ulm seit 1989 in einem Team von Statistikern, Diabetologen und Informatikern entwickelt [6][7]. Die ersten Schritte wurden mit einer eigenen Datenbank in der Programmiersprache C unter UNIX unternommen, führten aber in eine Sackgasse. Von diesem Versuch konnten lediglich die Daten gerettet werden, Programmkonzepte mußten neu erstellt werden. Daraufhin wurde das Programm als XBase-Appliaktion für IBM-kompatible PCs neu konzipiert und entwickelt.
Ursprünglich war es auf die Unterstützung der ambulanten und stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen abgestimmt und wurde dann später auf erwachsene Patienten erweitert.
Ein erstes Ziel war die Reduzierung von Aufwand und Zeit für Routinearbeit, wie das Schreiben von Arztbriefen und das Erstellen von Datenzusammenfassungen über einzelne Patienten.
Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in der Ambulanz erhielten viele Haus- und Kinderärzte bis dahin nur selten oder nie Arztbriefe über die Behandlung ihrer Patienten an der Klinik. Eine weitere Vorgabe war eine offene, flexible Datenbank, die die vielfältigen Forschungsprojekte an einer Universitätsklinik unterstützen kann. Aufbauend auf die Datenbank sollten dann Funktionen des Qualitätsmonitorings implementiert werden, um die Behandlungsqualität in der Ambulanz zu sichern und ggf. zu verbessern.
Als letztes und schwierigstes Ziel galt es, den Krankheitsverlauf eines einzelnen Patienten zu überwachen und frühzeitig Tendenzen zum Guten oder Schlechten zu erkennen.

Unterstützung von Routinearbeit

Im Programm werden alle wichtigen Diabetes relevanten Parameter eines Patienten erfaßt:

Die Datenbank setzt sich aus 24 Tabellen für Patientendaten und weiteren 43 Systemtabellen (Hardwareeinstellungen, Maßeinheiten, Kontrollwerte, ICD-9, Insulinarten etc.) zusammen.
Gespeicherte Daten sind nicht mit Informationen gleichzusetzen. Sie müssen zuerst strukturiert, zusammengefaßt und dann in etwaigen Zusammenhängen dargestellt werden. Deshalb erzeugen wir Datenübersichten in tabellarischer und graphischer Form vor jedem ambulanten Kontrolltermin. Die Liste der auszugebenden Parameter kann frei definiert werden.
Graphischen Verlaufskurven zeigen Größe, Gewicht, Body-Mass- Index, HbA1c-Werte und Insulineinheiten pro Kilogramm Körpergewicht. Größe, Gewicht und Body-Mass-Index werden auf dem Hintergrund der 3., 50., und 90.Perzentile der Normalbevölkerung dargestellt. Diese Standardwerte können aus verschiedenen Kontrollstudien gewählt werden, so z.B. die Daten der Züricher Longitudinalen Wachstumsstudie [7].
Die HbA1c-Werte werden für verschiedene evtl. wechselnde Labormethoden transformiert, damit auch alte Werte eines Patienten mit aktuell bestimmten verglichen werden können. Wir benutzen hierfür eine Transformation, die auf dem lokalen Labormittelwert und der dazugehörigen Standardabweichung, gemessen an 100 stoffwechselgesunden Nicht-Diabetikern, basiert.
Nach jedem ambulanten Termin oder stationären Patientenaufenthalt werden automatisch der Behandlungsplan für den Patienten und Arztbriefe für den Hausarzt generiert und ausgedruckt. Für den Arztbrief muß der behandelnde Arzt lediglich noch ggf. einen persönlichen Kommentar über die Behandlung eintragen. Alle anderen Labor- und Anamnesedaten können von Sekretärinnen oder Arzthelferinnen in das Programm eingegeben werden. Durch die zeitsparende Generierung der Arztbriefe wird die Kommunikation zwischen Hausarzt und Klinik wesentlich verbessert.
Nach dem Eintreffen des HbA1c-Ergebnisses vom Labor werden die Patienten direkt von der Klinik über ihren aktuellen Wert durch einen Brief informiert. Somit entfällt hier der mühsame Weg über den Hausarzt, um den HbA1c-Wert zu erfahren.
Sämtliche ausgehenden Briefe werden mit Briefkopf und Logo der behandelnden Klinik ausgedruckt. Die Briefköpfe werden mit Hilfe eines Scanners reproduziert.
Desweiteren ist es möglich, Serienbriefe an spezielle Patientengruppen zu versenden. Dies geschieht z.B. als Einladung zu Schulungen oder auch als Erinnerung an wieder fällige Augenuntersuchungen.

Eines der Resultate der amerikanischen DCCT-Studie ist, daß Patienten mit schlechter Stoffwechseleinstellung ein sehr hohes Risiko für Spätkompliakationen wie z.B. Erblindung und Amputation haben [9]. Deshalb können Patienten mit Risikofaktoren aus der Datenbank herausgesucht werden. Nach folgenden Parametern kann gesucht werden:

Forschungsdatenbank

Ziel war es, sowohl retrospektive wie auch prospektive Forschungsprojekte im Kontext des Diabetes zu unterstützen. Die interne Datenstruktur ist deshalb im Handbuch offengelegt, und das weitverbreitete dBASE-Datenformat wurde gewählt, um Auswertbarkeit der Daten mit vielen kommerziellen Statistikpaketen zu gewährleisten.
Für prospektive Studien ist es oft notwendig, neue Parameter zur Datenbank hinzuzufügen. Deshalb sind mehrere Felder in den Datentabellen für den Benutzer frei belegbar.
Außerdem ist es für jeden Benutzer möglich, eigene Tabellen und Masken in das Programm zu integrieren. Dafür ist lediglich ein dBASE IV oder V Datenbankprogramm für DOS erforderlich, um die neuen Masken und Tabellen zu erstellen. Diese werden dann in das Programmverzeichnis kopiert und in freie Menüpunkte des Programms eingehängt. Danach ist die Identifizierung und Verbindung zu den anderen Patientendaten sichergestellt. Zur Patientenauswahl, Neuanlegen, Ändern und Löschen von Einträgen steht somit die gleiche Oberfläche wie im gesamten Programm zur Verfügung.
Diese offene Architektur unterstützt neben lokalen Forschungsvorhaben auch prospektive multizentrische Studien. Ein Pilotversuch hierzu wurde auf dem Deutschen Diabetes Kongress 1994 in Berlin vorgestellt [10].

Qualitätsmonitoring

Viele Krankenhäuser zögern, die Daten ihrer Ambulanz für externe Qualitätssicherung zur Verfügung zu stellen. In vielen Fällen ist es auch schwierig, Behandlungsdaten mehrerer Krankenhäuser ohne detailiertes Wissen über sich beein flussende interne Variablen (z.B. verschiedene Populationen, verschiedene Labormethoden) zu vergleichen.
Aus diesen Gründen entschlossen wir uns, Quartalsübersichten über verschiedene Indikatoren, aufgeschlüsselt nach Alter und Diabetesdauer, in das Programm zu integrieren. Somit ist es jeder Ambulanz freigestellt, die Daten intern auszuwerten, dies als Grundlage für Qualitätszirkel zu verwenden oder sie einem externen Vergleich zuzuführen.

Folgende Übersichten sind implementiert:

         Parameter             		Prozentsatz von Patienten mit

  Risikofaktoren             	Body-Mass-Index > 90.Perzentile
                             	Größe < 10.Perzentile
                             	Blutdruck > 90.Perzentile
                              	HbA1c > 5 Standardabweichung  vom
                            	Mittelwert
  akute Komplikationen         	Hypoglykämien,  Aufnahmen  wegen
                            	Ketoazidose
  chronische Komplikationen  	Augenhintergrundschädigungen
                             	Neuropathie
                             	Makro/Mikroalbuminurie
  Vollständigkeit der  		Kontrolle von Blutdruck und Augen-
  Kontrolluntersuchungen     	untersuchung, HbA1c, Cholesterin, Urinalbumin,
                            	Größe und Gewicht gemessen
  Therapie                   	Diabetesschulung
                             	Anzahl Insulininjektionen / Tag
                              	Anzahl  Blutzuckerselbstmessungen / Tag
Außerdem werden Übersichten über Kostenfaktoren, wie z.B. die Anzahl der behandelten Patienten und die durchschnittliche Liegedauer, erstellt.
Die Berechnung aller dieser Statistiken dauert auf einem 80486/66 MHz Computer ca. drei Stunden für 11.000 Datensätze von 500 Patienten und kann so jederzeit über Nacht durch geführt werden. Danach hat das Krankenhaus eine komplette Übersicht über ihre Patienten und Ambulanzdaten der letzten Jahre.
Für die Teilnahme an der zentralen DIABCARE-Studie ist es weiterhin möglich, sämtliche Daten in das dafür vorgeschriebene Datenformat zu exportieren.

Bewertung individueller Krankheitsverläufe

Manifestierte Tendenzen innerhalb langjähriger Krankheitsverläufe zu entdecken ist schwierig und aufwendig. Das gilt vor allem, wenn es sich nicht nur um die Beachtung eines Laborwertes mit festumrissenen Normbereich (Urinalbumin, Cholesterin etc.), sondern um Parameter handelt, in denen die Kranken sozusagen eine Klasse für sich, jenseits der "Normalbevölkerung" bilden.
Der klassische Qualitätsindikator für Diabetes mellitus ist der HbA1c-Wert. Hier ist zu beachten, daß sich der HbA1c bei Diabetikern im Laufe der Krankheit auf einem viel höheren Level als der Normwert einspielt, und wiederum vom Alter und von der Diabetesdauer - sowie natürlich einer sorgfältigen Insulin und Diättherapie - abhängt. Als erste Näherung einer HbA1c-Bewertung bilden wir deshalb verschiedene Patientengruppen und vergleichen dann den Mittelwert (bzw. Median) eines Patienten der Gruppe mit dem Gesamtmittel. Im folgenden die gebildeten Gruppen:
Durch diese Einteilung wird das Problem umgangen, daß es keinen allgemeingültigen Normbereich der HbA1c-Werte für Diabetiker gibt. Patienten einer Ambulanz, einer Patienten gruppe, werden mit anderen Patienten derselben Gruppe in der Ambulanz verglichen. Mit diesem Verfahren wird eine einfache Einordnung in Bezug zum Patientenkollektiv erreicht.
Eine sensiblere Tendenzbewertung eines individuellen Verlaufs erhoffen wir mit statistischen Methoden wie der Kontrollkartentheorie zu erreichen.

Hardware und Software

Viele kleinere Krankenhäuser können sich teure Neuanschaffungen für ein Computerprogramm nicht leisten. Deshalb versuchten wir die Hardwareanforderungen so gering wie möglich zu halten. Als Hardwareplattform kam somit der IBM-kom patible PC in Frage, der in fast allen Krankenhäsuern vorhanden ist. Die Software selbst ist in dBASE V für DOS unter Verwendung einer SAA-Menüoberfläche geschrieben. Die Ausnahme bildet ein C-Programm für die graphische Darstellung von Verlaufsparametern.
Als Betriebssystem wird DOS verwendet, um die Hauptspeicheranforderungen minimal zu halten. So wird folgende Aussattung für den Einsatz des Programms empfohlen:

Weitere Pläne

Um den Aufwand für die Datenerfassung zu vermindern, arbeiten wir an einer Anbindung an vorhandene Krankenhausinformationssysteme. Eine Portierung auf eine graphische Benutzeroberfläche wie MS- Windows ist für das laufende Jahr geplant.
Mit der Fertigstellung einer englischsprachigen Version rechnen wir bis Mitte 1995.

Schluß

Darstellung und Überwachung von Qualitätsindikatoren im modernen Krankenhaus sowie umfassende Dokumentation bei chronischen Krankheiten sind auf die Hilfe elektronischer Medien angewiesen. Doch steht und fällt die Akzeptanz von Qualitätssicherungsmaßnahmen mit der Frage der Mehrbelastung des Einzelnen. Deshalb muß die notwendige zusätzliche Erfassung und Dokumentation einhergehen mit einer spürbaren Entlastung in der täglichen Routinearbeit, um sich wirklich im Alltag zu etablieren.
Mit dem Programm DPV sind wir diesem Ziel ein großes Stück näher gekommen.

Wir danken dem Bundesministerium für Gesundheit für die finanzielle Unterstützung bei der Entwicklung des Programms DPV.

Literatur


[1]  Krans  M., Porta M., Keen H.: Diabetes care and  research
     in  Europe: The Saint Vincent declaration action program.
     Implementation    document.    Giornale    Italiano    di
     Diabetologia 1992

[2]  Clade  H.:  Rahmenempfehlungen bauen  auf  Partnerschaft.
     Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 41:B2019-B2020 (1994)

[3]  Dalichan  und  Grüner:  Gesetzliche  Krankenversicherung,
     Sozialgesetzbuch  V  -  Kommentar.  Verlag  R.S.  Schulz,
     Sternberg 1994

[4]  Selbmann   K.:   Die  eigenen  Schwachstellen   erkennen.
     Bayerisches Ärzteblatt, Heft 3:86-92 (1993)

[5]  Fahey  P. und Ryan S.: Quality begins and ends with data.
     Quality  Progress, Heft April, Volume XXV,  Num.  4:75-79
     (1992)

[6]  Holl  R.W.,  Grabert M., Schweiggert F., Heinze  E.:  Ein
     Computerprogramm  zur  prospektiven  Datenerfassung   bei
     jugendlichen   Patienten  mit  Typ-I-Diabetes   mellitus.
     Diabetes und Stoffwechsel 2:232-238 (1993)

[7]  Grabert M., Holl R.W.: A Diabetes Information System  for
     IDDM   Patients,   Supporting   Patient   Care,   Quality
     Monitoring and Prospective Documentation. Proceedings  of
     Computers  in  Diabetes, Europäischer Diabetes  Kongress,
     Düsseldorf 1994:2

[8]  Prader  A., Largo L.H., Molinari L., Issler C.:  Physical
     Growth  of Swiss Children from birth to 20 years of  age.
     Helv. Paediatr. Acta 43:1-128 (1989)

[9]  Diabetes  Control and Complication Trial Research  Group:
     The  effect  of  intensive treatment of diabetes  on  the
     development and progression of long-term complications in
     insulin-dependant diabetes mellitus. New England  Journal
     od Medicine 329:977-986 (1993)

[10] Holl  R.,  Grabert M., Brack C., Hecker  W.,  Holder  M.,
     Klinghammer  A.,  Teller W., Heinze E.: EDV-Dokumentation
     des  Typ-I-Diabetes  bei Kindern  und  Jugendlichen:  Die
     gemeinsame Datenauswertung in 4 Zentren zeigt Beziehungen
     zwischen  Manifestation  und  HLA-Typ.  Vortrag  auf  dem
     Deutschen Diabetes Kongress, Berlin 1994