Matthias Grabert,
SAI, Universität Ulm
10. Juni
2000
Abb.1 Bausteine für die Qualitätssicherung
1 Einleitung
Die Idee zu einem EDV-Dokumentationssystem für jugendliche Typ-1-Diabetiker entstand an der Universitätskinderklinik Ulm nach dem denkwürdigen St.Vincente-Treffen von 1989. Dort wurden die bekannten Fünfjahresziele gefordert [Krans92], nämlich Senkung der diabetesbedingten Folgeschäden
Das Ulmer Diabetesdokumentationssystem DPV wird seit 1990 in enger Zusammenarbeit zwischen der Abteilung Pädiatrie und der Abteilung Angewandte Informationsverarbeitung der Universität Ulm entwickelt. Wesentliche Arbeiten am System wurden in einem Projekt des Bundesgesundheitsministeriums in den Jahren 1992-1995 gefördert, an dem - neben Ulm - auch die Kinderkliniken in Bonn, Chemnitz und Hamburg beteiligt waren.
Seit 1990 war es ein Hauptziel, den pädiatrischen Diabetesambulanzen ein flexibles Informationssystem an die Hand zu geben, mit dem nicht nur Krankheitsverläufe dokumentiert werden können, sondern die Kliniken auch die notwendige Unterstützung für die tägliche Routinearbeiten erhalten (z.B. Arztbriefe erstellen, Führen von elektronischen Patientenakten etc.). Von Anfang an sollte es der Klinik überlassen bleiben, ob sie die Patientendaten an eine externe Instanz zur Auswertung übergibt oder nicht. Aus diesem Grund wurde z.B. die Auswertungsfunktionen für die Qualitätsindikatoren (Vorbereitung für externes Benchmarking) in das lokal installierte System integriert. Somit kann jede Klinik entscheiden, ob sie die ausgewerteten Daten in hausinternen Qualitätszirkeln zur Sprache bringt, oder ob sie die Ergebnisse mit anderen Kliniken vergleichen will, was ja z.B. im §137 des Sozialgesetzbuchs gefordert wird.
1995 legte sich der Qualitätssicherungsausschuß der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (AGPD) in einem Statement auf wesentliche Qualitätssicherungsparameter im Bereich Struktur-, Prozeß und Ergebnisqualität fest [AGPD95]. Damit wurde in der pädiatrischen Diabetologie der Grundstein für eine standardisierte Diabetes-Dokumentation geschaffen, die Voraussetzung jedes externen Benchmarking ist. Das Computerprogramm DPV setzte diese Vorgaben um, und seit 1995 konnten so die Behandlungsergebnisse der einzelnen Kinderkliniken in jährlich zweimal stattfindenden Treffen anonym verglichen und diskutiert werden (QS-DPV). Für das Jahr 1999 nahmen 87 Kinderkliniken mit 9382 dokumentierten Patienten an den Auswertungen teil.
Seit 1998 werden auf freiwilliger Ebene die anonymisierten Einzeluntersuchungen
der dokumentierten Patienten in einer großen gemeinsamen Datenbank
(DPVWISS) in Ulm zusammengeführt. Allein für das Behandlungsjahr
1999 gingen Daten von 8952 Patienten mit Typ-1-Diabetes ein, die jünger
als 20 Jahre waren. Aktuelle Schätzungen der Gesamtzahl von Kindern
und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes im Alter bis 19 Jahren bewegen sich
zwischen 14.000 [Michaelis93] und 24.000 [Rosenbauer99]. Somit liegt der
Anteil der 1999 in DPVWISS erfaßten Patienten zwischen 38% und 64%.
DPVWISS ist somit – zumindest im Bereich der pädiatrischen Diabetologie
– von seinem Erfassungsgrad her weltweit einzigartig.
2 Bausteine für Qualitätssicherung und Forschung
2.1 Das EDV-Dokumentationssystem DPV
Im Rahmen von Strukturverträgen zwischen Krankenkassen und niedergelassenen Diabetologen ist auch eine Version für Diabetesschwerpunktpraxen entstanden, die inzwischen von einer Ulmer Firma kommerziell weiterentwickelt und betreut wird. Die Kompatibilität der einzelnen Versionen ermöglichst einen einfachen Datenaustausch zwischen Klinik und niedergelassenem Kollegen, wie auch beim Übergang von der pädiatrischen in die internistische Betreuung. Im folgenden wird das Programm aus dem Blickwinkel der pädiatrischen Diabetologie näher betrachtet.
2.1.1 Strukturierte Datenerfassung
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Antropometrische Daten | Gewicht, Größe, BMI |
Therapiemodalitäten | ambulanter/stationärer Aufnahmegrund, Selbstkontrolle Urin-/Blutzucker, Insulintherapieschema |
Akute und chronische Komplikationen | Hypo-/Hyperglykämien, Augenschädigungen, Gefäßerkrankungen, neurologische Störungen, Schädigung der Niere |
Stoffwechselparameter | HbA1c, Fruktosamin, Blutzuckerwert bei Untersuchung |
Langfristige Risikoparameter | Blutdruck, Cholesterin |
Psychosoziales Umfeld | Erreichter Ausbildungsstand, Ausbildungsstand der Eltern |
Schulungsmaßnahmen | Schulungsinhalte; Einzel-/Gruppenschulung |
Lebensqualität | Wellbeing Five nach WHO |
2.1.2 Ambulanzunterstützung
Ein Dokumentationssystem wird nur dann langfristig akzeptiert und eingesetzt,
wenn es doppelte Dateneingaben für den Benutzer vermeidet und ihm
wesentliche Routinearbeiten seines Arbeitsalltags abnimmt. Deshalb wurden
die folgenden Komponenten in das DPV-Programm integriert:
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Automatische Arztbriefgenerierung
(direkter Ausdruck oder Ausgabe in MS-Word) |
Rasche Kommunikation zwischen Klinik und niedergelassenem Kollegen |
Tabellarische Datenzusammenfassungen | Schnellübersicht über die Patientenhistorie |
Grafische Darstellungen mit Einblenden von Normalwerten (Abb. 2) | Visuelles Überwachen von Längenwachstum und Body-Mass-Entwicklung; Langzeit-HbA1c-Überwachung |
Ausgedehnte Suchfunktionen in der Datenbank | Suche nach Patienten mit Risikofaktoren (Gewicht, Blutdruck, HbA1c etc.); Übersicht über Therapieformen (Anzahl Injektionen/Pumpe); Überwachen von fälligen Kontrolluntersuchungen (Augenuntersuchung, HbA1c-Bestimmung) etc. |
Serienbriefe | Anschreiben zu Schulungsmaßnahmen oder Bericht über erfolgte Änderungen in der Betreuung (Personalwechsel etc.) |
Ausdruck des Therapieschemas | Schriftliche Kurzdarstellung der Therapieform als Erinnerung für den Patienten |
Patientenpaß Diabetes | Kleberausdruck für die patienteneigene Dokumentation |
Abb.2 – grafische Darstellung des BMI-Verlaufs für einen männlichen Patienten auf dem Hintergrund der 3., 50. und 97.Perzentile der Züricher Normalwerte; Quelle: DPV-Programm |
2.1.3 Datenaustauschfunktionen
Vor allem im Bereich der Erwachsenendiabetologie existieren eine Reihe
von weiteren Qualitätssicherungsinitiativen. Deshalb wurden in DPV
Schnittstellen für das Forum Qualitätssicherung in der Diabetologie
(FQSD), dem Arbeitskreis Strukturierte Diabetestherapie (ASD)
sowie der Diabcare-Initiative (Büro München) integriert.
Dem DPV-Anwender steht es damit frei, bei welcher Qualitätsinitiative
er sich beteiligt. Er ist nicht auf die QS-DPV-Vergleiche angewiesen und
bleibt somit frei in seiner Wahl.
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Risikofaktoren | Patientenanteil BMI > 90.Perzentile
Größe < 10.Perzentile, Blutdruck > 90.Perzentile HbA1c > 5 Standardabweichungen über Mittelwert |
Akute Komplikationen | Hypoglykämien pro 100 Patientenjahre
Aufnahmen wegen Ketoazidose |
Chronische Komplikationen | Augenschädigungen, Neuropathie, Mikro/Makroalbuminurie |
Vollständigkeit von Kontrolluntersuchungen | Kontrolle der Augen, Messung von Blutdruck, HbA1c, Gewicht, Größe, Urinalbumin |
Schulungsmaßnahmen | Erfolg von Schulungsmaßnahmen (Wilcoxon-Test auf signifikante Verbesserung von BMI und HbA1c) |
Stoffwechselkontrolle | Absoluter und relativer HbA1c
(SDS und MOM);
Mittlerer HbA1c bei prä-/post- und pubertären Kindern |
2.2 Regelmäßiges bundesweites externes
Benchmarking (QS-DPV)
Grundlage des Benchmarking sind die lokal in den Kliniken gewonnenen
Qualitätsdaten, wie unter 2.1.4 beschrieben. Die Kliniken senden die
Ergebnisse der lokalen Qualitätsstatistiken via Diskette oder E-Mail
nach Ulm, wo dann für 68 ausgewählte Qualitätsindikatoren
Vergleichsgrafiken erstellt werden. Es wird für jeden der Parameter
der Median aller Kliniken berechnet und teilweise noch mit der Anzahl der
in der Klinik behandelten Patienten gewichtet. Bei einigen Parametern wird
die Verteilung in drei gleich große Bereiche aufgeteilt und mit dem
Ampelfarben rot, gelb und grün markiert, um gute bzw. schlechte Werte
rasch sichtbar zu machen (Abb. 4). Auf den Ausdrucken wird die Säule
der eigenen Klinik weiß markiert, die anderen Kliniken bleiben
jeweils anonym.
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Die zwei wohl wichtigsten Parameter der Diabetestherapie, HbA1c
und Hypoglykämieanzahl pro 100-Patientenjahre, werden in einer bivariaten
Grafik gemeinsam dargestellt (Abb.5). Exzellente Kliniken bleiben sowohl
bei den HbA1c-Werten wie auch bei den Hypoglykämien unter
dem Median und erreichen somit eine optimale Diabeteseinstellung für
Ihre Patienten.
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Abschließend wird noch ein Gesamtranking für alle Kliniken berechnet, bei dem gewertet wird, wie oft eine Klinik unterhalb des Medians aller Kliniken bei 22 ausgewählten Parametern liegt. So kann der Platz der Kliniken im Gesamtfeld auf einen Blick ausgemacht werden. Die beste Klinik für das Jahr 1999 schaffte es, in 20 von 22 Parametern (91%) besser als der Median zu sein.
Die anonymisierte Darstellung der Ergebnisse ist nicht unumstritten,
einige Kliniken fordern eine Offenlegung der Werte für jede Klinik,
wie das z.B. beim FQSD der Fall ist. Da sich die Kliniken in Befürworter
und Gegner spalten, werden inzwischen auch ent-anonymisierte Vergleiche
für lokale Qualitätszirkel erstellt. Dafür muß das
schriftliche Einverständnis aller beteiligten Kliniken vorliegen.
Aktuelle Studien bzw. Ergebnisse, die sich auf DPVWISS stützen, sind u.a.:
- Übergang von der Pädiatrie zur Inneren Klinik [Grabert99] (Abb.6).
- Versorgungsepidemiologie
- jahreszeitliche Schwankungen in der Diabeteseinstellungen [Holl99]
- Schilddrüsenautoimmunerkrankungen bei Typ-1-Diabetes
- Diabetes bei Kindern unter 5 Jahren
Mit der Vielzahl der Einzeluntersuchungen und einem Dokumentationsgrad von geschätzten maximal 64% aller Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist DPVWISS ein wichtiger Bestandteil der aktuellen Diabetesforschung in der Bundesrepublik geworden.
Abb.6: mittleres Alter und Diabetesdauer beim Verlassen pädiatrischer Kliniken; Ergebnisse der Jahre 1989 bis 1998; 47 Kliniken und 6387 Patienten; Medianes Alter beim Verlassen = 17,1 Jahre; Mediane Diabetesdauer = 7,2 Jahre
4 Zusammenfassung und Ausblick
Durch die Datenaustauschfunktionen ist eine Kommunikation zwischen verschiedenen Kliniken und zwischen Praxen und Kliniken möglich, die so in anderen Bereichen erst im Entstehen ist (Stichwort "vernetzte Praxen"). Die vielfältigen statistischen Auswertungen von relevanten Qualitätsindikatoren ermöglichen sowohl eine klinikinterne Überwachung der eigenen Qualität und sind darüber hinaus Grundlage für externe Klinikvergleiche sowie lokalen Qualitätszirkeln. Die zentrale Diabetesdatenbank bietet eine gute Grundlage für epidemiologische Studie wie auch andere diabetesbezogene Fragestellungen.
In Zukunft werden in DPV weitere benutzerunterstützende Darstellungen
und Auswertungen integriert werden. Zur Zeit läuft eine Studie, die
die Validität der Vorhersage von Einzelparameter des Krankheitsverlaufs
über Datamining-Techniken (z.B. Collaborative Filter [Resnick94])
prüft.
Allen Ärzten der AGPD und den Nutzern von DPV danke ich für
die hilfreichen und kritischen Anmerkungen und die großmütige
Nachsicht, wenn wieder ein Fehler im Programm entdeckt wurde ("grüner
Kasten") sowie für die konstruktive Zusammenarbeit im Rahmen von QS-DPV
und DPVWISS.
[AGPD95]
Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie, Statement Qualitätssicherung
in der Pädiatrischen Diabetologie, Monatsschrift für Kinderheilkunde
(1995) 143:1146-1149
[BMG94]
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Maßnahmen der
Medizinischen Qualitätssicherung in der Bundesrepublik Deutschland
- Bestandsaufnahme, Nomos Verlag Baden-Baden 1994
[Gfrerer99]
R. Gfrerer, H. Eder, T. Slansek, K. Battlogg, P. Wach, T.R. Pieber,
FQSD
– Der Weg von einer Insellösung zur flächendeckenden Umsetzung
von Qualitätsmanagement und mögliche Implikationen auf das Gesundheitssystem.
Acta Medica Austriaca, Jahrgang 26, Supplement 50, 1999, S. 6
[Grabert95]
M. Grabert, R.W. Holl, P. Merkle, Ein Diabetes Informationssystem
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prospektiver Dokumentation. In: K.-L. Krämer, H. Cotta (Hrsg.),
Informationssysteme
im Unternehmen Krankenhaus: Von der Planung bis zur Realisierung, Tagungsband
der Fachkonferenz an der Universitätsklinik Heidelberg 1995, GeSi
Mannheim, Seiten 185-189
[Grabert97]
M.Grabert, EDV-gestützte Qualitätssicherung im Bereich
der pädiatrischen Diabetologie, Dissertation zur Erlangung des
Doktorgrades an der Fakultät Mathematik und Wirtschaftswissenschaften
der Universität Ulm, März 1997
[Grabert99]
Grabert M, Holl R.W., Icks A., Lang E., Hunkert F., Schweiggert F.
At
what age do patients leave pediatric treatment centers? A German multicenter
study on 2008 patients leaving pediatric care. Vortrag auf dem 25th
Annual Meeting of the International Society for Pediatric and Adolescant
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in: Diabetes Research and Clinical Practice, Volume 44, Supplement (1999)
S.1-2
[Holl97]
R.W. Holl, M. Grabert, W. Hecker, H. Klinghammer, C. Renner, F. Schweiggert,
W.M. Teller, E. Heinze, Qualitätssicherung bei der Betreuung von
Kindern und Jugendlichen mit Diabetes: Ein externer Vergleich in 23 pädiatrischen
Diabeteszentren, Diabetes und Stoffwechsel (1997) 6:82-89
[Holl99]
R.W. Holl, J. Rosenbauer, M. Grabert, U. Schimmel, Seasonality of
Metabolic Control in Paediatric Patients With Type-1 Diabetes: Multicenter
Analysis including 4620 Patients from 41 Centers. Vortrag auf dem 25th
Annual Meeting of the International Society for Pediatric and Adolescant
Diabetes, 24.-27. April 1999, Noordwijkerhout, Niederlande; Abstrakt erschienen
in: Diabetes Research and Clinical Practice, Volume 44, Supplement (1999)
S.10
[Krans92]
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the St.Vincent Declaration action programme, in: Giornale Italiano
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[Michaelis93]
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trends between incidence and prevalence rates, in: Diabetes Metab (France)
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[Müller00]
U.A. Müller, S. Köhler, M.Femerling, A. Risse, M. Schumann,
G. Use, C.Nierderau, V. Jörgens, M. Berger, HbA1c und
schwere Hypoglykämien nach intensivierter Behandlung und Schulung
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deutschlandweiten Qualitätszirkels (ASD) 1992-1999, in: Diabetes
und Stoffwechsel 9 (2000), S.67 - 81
[Piwernetz95]
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[Rosenbauer99]
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of the International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes, Noordwijkerhout,
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